Hanau (pm/aw). Bezahlbarer Wohnraum werden in der Metropolregion Frankfurt Rhein-Main immer knapper. Mieten und Immobilienpreise steigen stetig an. Auf dem Gelände der ehemaligen Sportsfield Housing Area im Hanauer Stadtteil Wolfgang stehen 22 guterhaltene Wohnblocks mit rund 400 Wohneinheiten, die jahrzehntelang als Unterkünfte für US-Soldaten und ihre Familien dienten. In den vergangenen Jahren wurden sie zudem teilweise als Flüchtlingsunterkünfte genutzt. Sie befinden sich aktuell im Besitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA).
Mit der Nutzung der vorhandenen Wohnungen könnte kurzfristig das Angebot an bezahlbarem Wohnraum in Hanau deutlich erhöht werden. Doch dem stehen rechtliche Hindernisse entgegen, die mit der Nähe zum Industriebetrieb Goodyear Dunlop GmbH zu tun haben. Die Ausweisung eines Wohngebietes ist hier nach geltendem Baurechte derzeit nicht möglich, da es Lärm- und Geruchsimmissionen seitens des angrenzenden Betriebs geben könnte, die die zulässigen Werte überschreiten.
Gleichwohl hat die Stadt Hanau vor kurzem ihren Erstzugriff auf das Areal erklärt und damit ihren Willen bekundet, dass Areal zu entwickeln. „Es kann nicht sein, dass wir bei all der Wohnungsknappheit gut erhaltene Wohngebäude abreißen müssen!“, sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky und fordert eine tabulose Inventur der bau- und immissionsschutzrechtlichen Regelwerke. „Wir brauchen mehr Planungshoheit. Die Städte im Ballungsraum müssen in der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt selbst entscheiden können, an welchen Stellen eine Wohngebietsentwicklung als sinnvoll erachtet wird!“, so Kaminsky.
In einer vielbeachteten Pressekonferenz auf dem Sportsfield-Gelände präsentierte OB Kaminsky mehrere Thesen, die als Anregung für eine Änderung des Baurechts dienen sollen. Unterstützt wurde er dabei von Martin Bieberle, Fachbereichsleiter Planen, Bauen & Umwelt, Dr. Michael Denkel und Dipl.-Ing. Lutz Krämer-Heid von Albert Speer und Partner (AS+P) und Dr. Olaf Otting, Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei Allen & Overy LLP.
„Im Bereich Sportsfield-Housing haben jahrzehntelang amerikanische Familien gewohnt. Im Rhein-Main Gebiet allgemein, in Hanau insbesondere, besteht ein hoher Nachfragedruck insbesondere nach bezahlbarem Wohnraum, der hier mit überschaubarem Aufwand für zahlreiche Familien geschaffen werden könnte“, erläuterte Kaminsky. Doch rechtlich stoße die Stadt an ihre Grenzen, weil die geltenden immissionsschutzrechtlichen Regelwerke mit Rücksicht auf die Emissionen des benachbarten Industriebetriebs Goodyear Dunlop GmbH einer Wohngebietsausweisung entgegenstehen. „Trotz intensiver Bemühungen und Gesprächen mit dem benachbarten Industriebetrieb und den zuständigen Behörden in Hessen mussten wir zu dem Schluss kommen, dass es rechtssicher nicht möglich ist, ein Baugebiet festzusetzen. Diese Beurteilung wird von der obersten Baubehörde des Landes geteilt“, erklärte der oberste Stadtentwickler Martin Bieberle.
Die Stadt Hanau habe sich in dieser Situation entschlossen, sämtliche Möglichkeiten zur Erhaltung der Wohngebäude und deren dauerhafter Nutzung entsprechend ihrer Zweckbestimmung aus städtebaulicher wie aus planungsrechtlicher Sicht auszuloten. Gemeinsam mit Stadtplanern und Juristen wolle die Stadt Hanau Impulse zur Anpassung der städtebaurechtlichen Regelungen setzen, so Kaminsky. „Gerade angesichts des akuten Bedarfs an Wohnraum soll die Debatte aus rechtlicher und planerischer Perspektive weiter vertieft und angeschoben werden. Die Stadt möchte damit auch einen Anstoß im Rahmen der voraussichtlich noch in diesem Jahr anstehenden Novellierung des Baugesetzbuchs (BauGB) geben“, erläutert Kaminsky.
Selbstverständlich lege die Stadt Hanau auf die Sicherung des Gewerbestandortes Wert und wolle mit einer Wohngebietsausweisung den Betrieb der Goodyear Dunlop GmbH nicht einschränken, betont der Oberbürgermeister. „Niemand will eine Neuplanung in Bereichen ermöglichen, in denen nicht nachhaltig ein Mindestmaß an Wohn- und Aufenthaltsqualität geschaffen werden kann“, betonte Kaminsky. Doch befinde sich angrenzend an das Industriegelände auf der anderen Seite des Betriebs seit jeher das Wohnviertel Freigericht, in dem Menschen in sehr gutem Einvernehmen und ohne Einschränkungen mit dem Industrie-Nachbarn lebten. Deshalb wolle und könne die Stadt Hanau sich mit diesem Ergebnis nicht abfinden.
„Rechtsnormen sind menschengemacht. Wenn die Anwendung des geltenden Rechts zu einem nicht überzeugenden Ergebnis führt, muss man sich die Frage stellen, ob und welche Rechtsnormen geändert werden sollten!“, so Kaminsky. Die Stadt Hanau habe bereits die zuständigen Minister auf Bundes- und Landesebene angeschrieben, Ihnen die Thesen vorgestellt und sie nach Hanau eingeladen, um ihnen am Beispiel dieses Areals zu demonstrieren, wie schnell und effektiv bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden könne, wenn man den Kommunen wieder ein Stück Planungshoheit zurückgebe.
„Änderungen im Planungsrecht sind notwendig – auch, weil es sich bei diesen Planungshemmnissen um immer wieder auftretende Probleme handelt, die der Linderung der Wohnungsnot in Ballungszentren entgegenstehen und die weitere Versiegelung von Bodenflächen nach sich ziehen“, erläutert Dr. Olaf Otting. Die stärkere Differenzierung in „städtische Gebiete“ und „ländliche Räume“, mögliche Anpassungen im Immissionsschutzrecht, eine Experimentierklausel zur Schaffung der planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Wohnnutzung in Gemengelagen, die Einführung einer neuen Baugebietskategorie „Urbanes Wohngebiet“ und weiteren, flankierenden Anpassungen im ersten Teil des Baugesetzbuchs seien überlegenswerte Aspekte und Neuerungen.
Dr. Michael Denkel und Dipl.-Ing. Lutz Krämer-Heid von Albert Speer und Partner (AS+P) führten die Denkanstöße aus Hanau weiter aus und betonten dabei: „Die textlichen Formulierungsvorschläge zu den Regelungen einer Experimentierklausel und zu einem neuen Urbanen Wohngebiet sind eine geeignete Grundlage für den Bundesgesetzgeber. Sie können und sollten entsprechend bei der anstehenden BauGB-Novelle berücksichtigt werden.“
Städtische Gebiete und ländliche Räume:
Entsprechend dem aus dem Raumordnungsrecht bekannten Prinzip der Raumgliederung sollte auch im Bereich des Planungs- und Immissionsschutzrechts eine stärkere Ausdifferenzierung in städtische Gebiete und ländliche Räume erfolgen. Dies hätte zur Folge, dass die unterschiedlichen Anforderungen und Handlungserfordernisse in den verschiedenen Raumkategorien stärker als bislang berücksichtigt werden können. Durch die Differenzierung in „städtisch – ländlich“ soll aber keinesfalls einer Zweiteilung Vorschub geleistet werden. Dies wäre aufgrund des Verfassungsauftrages, einheitliche Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zu schaffen, unzulässig. Gleichzeitig sollte aber im Rahmen des rechtlich Möglichen den Besonderheiten und Anforderungen an das Leben in den betreffenden Gebieten Rechnung getragen und somit letztlich zur Flexibilisierung beigetragen werden.
Neue Experimentierklausel
Anknüpfend an einen Vorschlag im Abschlussbericht der Baulandkommission wird zur effektiven Bekämpfung der Wohnungsnot in Ballungszentren die Einführung einer „Experimentierklausel“ im BauGB vorgeschlagen. Diese soll es den Gemeinden bei der Bauleitplanung für Wohnbaugebiete in Gemengelagen ermöglichen, im Bebauungsplan eine Überschreitung der Grenz-, Richt- oder Orientierungswerte der maßgeblichen immissionsschutzrechtlichen Regelwerke in eigener Verantwortung zuzulassen, wobei die Anforderungen an gesunde Wohn- und Lebensverhältnisse selbstredend zu wahren sind. Die Klausel, die Ausdruck der Planungshoheit der Gemeinden und damit des kommunalen Selbstverwaltungsrechts ist, sollte zeitlich befristet im Baugesetzbuch verankert werden. Ihr Geltungsbereich soll auf Gebiete beschränkt werden, in denen eine Unterversorgung mit bezahlbarem Wohnraum vorliegt.
Flexibilisierung des Immissionsschutzrechts
Die immissionsschutzrechtlichen Regelwerke sollten unabhängig davon flexibler werden. Die Segmentierung des Lärmschutzes in unterschiedliche Regelwerke, die Verkehrslärm anders messen und beurteilen als Gewerbelärm, stellt die Praxis immer wieder vor kaum lösbare Probleme. Technische Vorkehrungen des passiven Schallschutzes sollten auch zum Schutz vor Gewerbelärm in Betracht gezogen werden. Hinsichtlich der Geruchsbelastung ist eine größere Flexibilität nicht nur im ländlichen Raum zum Schutz der Landwirtschaft, sondern auch in Ballungsräumen in der Nachbarschaft emittierender Betriebe wünschenswert.
Neue Baugebietskategorie in der BauNVO: Das „Urbane Wohngebiet“
Es sollte darüber hinaus ein neues „Urbanes Wohngebiet“ (WU) in die Baunutzungsverordnung (BauNVO) aufgenommen werden. Dass der Verordnungsgeber für die veränderten Bedürfnisse des Zusammentreffens von gewerblicher Nutzung und Wohnnutzung grundsätzlich aufgeschlossen ist, hat er bereits im Jahr 2017 durch die Aufnahme des „Urbanen Gebietes“ in die BauNVO demonstriert. Charakteristisch für das „Urbane Gebiet“ ist neben einer Wohnnutzung die Prägung insbesondere auch durch gewerbliche und kulturelle Nutzungen im Gebiet. Ein Gebiet, das ausschließlich oder ganz maßgeblich dem Wohnen dienen soll, kann nicht als ein „Urbanes Gebiet“ festgesetzt werden. Daher ist die Schaffung eines neuen Wohngebiets mit urbaner Prägung und aufgrund dieser Prägung reduzierbarem Schutzanspruch notwendig. Für viele Menschen führt ein urbanes Umfeld aufgrund kurzer Wege und lebendiger Nutzungsmischung zu einer gesteigerten Lebensqualität. Diese bewerten sie subjektiv häufig höher als etwaige Lärm- und Geruchsbelästigungen. Dieses Empfinden sollte in die maßgeblichen Regelwerke Einfluss finden.
Dies ist eine Pressemitteilung, die der Redaktion zugeschickt wurde, und die wir zur Information unserer Leser*innen unredigiert übernehmen.