Witten (lwl/aw). Auf dem Gelände des neuen Gewerbegebietes "Drei Könige" in Witten (Ennepe-Ruhr-Kreis) dokumentieren Archäologen unter Leitung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) zurzeit die monumentalen Reste von zwei Stahlhütten aus dem 19. Jahrhundert. "Diese gelten schon jetzt als einmaliges Zeugnis der Industrialisierung im Ruhrgebiet und finden international Beachtung", erklärt Prof. Dr. Michael Rind, Direktor der LWL-Archäologie für Westfalen. "Vergleichbare Überreste solcher Anlagen gibt es in dem Umfang europaweit kaum mehr."
Vor zirka vier Wochen traten bei Bauarbeiten Reste der 1855 gegründeten "Steinhauser Hütte" zutage. Seitdem untersuchen Archäologinnen zweier Fachfirmen das vier Hektar große Gelände mit modernen Messmethoden und Drohnen. Dabei entdeckten sie zahlreiche Gewölbe und Überreste technischer Anlagen, darunter sogenannte Puddel- und Flammöfen.
Die Steinhauser Hütte erzeugte im Puddelwerk im Norden und dem Bessemer-Stahlwerk im Süden einst aus zugeliefertem Roheisen formbaren Stahl. In angegliederten Gießereien und Walzwerken wurden Endprodukte wie Schienen und Flachstähle hergestellt, unter anderem für die Köln-Deutzer Brücke. Dr. Manuel Zeiler, Montanarchäologe des LWL: "Die verschiedenen technischen Verfahren belegen den massiven Wandel der deutschen Stahlindustrie an der Schwelle zur Hochindustrialisierung. Damals kamen hier, organisiert in Großbetrieben, neueste Techniken zum Einsatz."
Die unterschiedlichen Baustrukturen der beiden Stahlwerke werden unter Anleitung der Archäologen per Bagger freigelegt. "Immer wieder aber müssen wir Untergrund und Mauerstrukturen auf unbekannte Hohlräume untersuchen, um ein Einstürzen in bis zu vier Meter Tiefe zu verhindern", erklärt LWL-Fachmann Wolfram Essling-Wintzer.
Im Laufe der Grabungsarbeiten entdeckten die Archäologen neben massiven Bruchstein- und Backsteinmauern auch zahlreiche unterirdische Kanäle zur Belüftung verschiedener Ofensysteme sowie Maschinenanker und Schornsteinfundamente. "Vergleicht man das mit überlieferten Bauplänen des Obergeschosses der älteren Steinhauser Hütte, ist es möglich, einzelne Baustrukturen tatsächlichen Arbeitsabläufen direkt zuzuordnen", meint Essling-Wintzer. Genauere Aussagen zur Entwicklung und Organisation der Betriebe seien allerdings erst nach Abschluss der archäologischen Dokumentation in der Gesamtaufnahme der Fläche möglich.
Nach ersten Erkenntnissen sind die Überreste der Bessemer-Hütte mit denen der Henrichshütte in Hattingen zu vergleichen. "Anhand der archäologischen Befunde lässt sich nun auch die Bau- und Modernisierungsgeschichte solcher Hüttenwerke nachvollziehen. Somit leistet der Wittener Befund einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Industriekultur im Ruhrgebiet", meint Zeiler. Noch spannender findet Dr. Olaf Schmidt-Rutsch vom LWL-Industriemuseum das seltene Puddelwerk: "Bessemer-Stahlwerke sind europaweit noch an zwei Standorten erhalten: eines in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Gelände unseres Industriemuseums Henrichshütte in Hattingen und ein anderes in Schweden." Puddelwerke dagegen könne man so gut wie nicht mehr finden.
Die Vielzahl erhaltener Gewölbe und Schächte lässt die ursprüngliche Bautiefe der beiden Industrieanlagen zurzeit nur erahnen. Mit Abschluss der archäologischen Untersuchungen im Bereich des ersten Planums (Bodenschicht) wird ein Teil von ihnen in der kommenden Woche kontrolliert entfernt, um dann im gesamten freigelegten Bereich erneut mindestens zwei Meter in die Tiefe zu gehen. "Erstaunlich ist, dass in den 1920er Jahren die Reichsbahn eine Vielzahl von Gleisen über den gewaltigen Hohlräumen angelegt hat", erklärt Essling-Wintzer. "Dass hier kein Unglück geschah, ist den im industriellen Maßstab geplanten Gewölbekonstruktionen zu verdanken."
Der ehemalige Standort der Steinhauser Hütte war vor Beginn der Bauarbeiten gut bekannt. Da sie aber seit rund hundert Jahren auf keinerlei Karten mehr verzeichnet ist, ging der Bauherr, die Stadt Witten, davon aus, dass sie längst abgerissen worden waren. Erst durch Tagesbrüche zu Beginn der Bauarbeiten wurde man stutzig. Die Stadt Witten zog umgehend Archäologen und Denkmalpflegerinnen des LWL hinzu. Das Gebiet wurde für sechs Monate unter Denkmalschutz gestellt.
Die archäologische Dokumentation der Gewölbe und Bauteile sei von allgemeinem Interesse, erklärt LWL-Chefarchäologe Rind: "Diese spektakulären Bodendenkmäler sind für die Entwicklung der Kulturlandschaft des Ruhrgebietes und der Lebensumstände seiner Bewohner bedeutend. Sie haben einen einmaligen Zeugniswert." Ein Großteil der Kosten zur Freilegung wäre dem Bauherrn ohnehin entstanden, so Rind weiter, da die Stadt nur so die Standfestigkeit des Untergrundes für eine zukünftige Neubebauung sicherstellen könne. Essling-Wintzer: "Erst dadurch ist eine archäologische Dokumentation notwendig geworden."
Dem Bau des Gewerbegebietes "Drei Könige" steht aus Sicht der LWL-Archäologen aber nichts im Wege. Rind: "Die Überreste sind zu brüchig, als dass sie zukünftig Besuchern zugänglich gemacht werden könnten." Die markanten Grundmauern der Hüttenwerke blieben aber ohnehin im Boden erhalten, da sie einer gleichmäßigen Verdichtung des Untergrundes nicht entgegen stünden, meint Rind.