Worms (pm/aw). Als Pionierbau der modernen Betonkonstruktion hat die Nibelungenbrücke in Worms Architekturgeschichte geschrieben. 1951–1953 wurde die elegante Spannbetonbrücke nach Plänen von Ulrich Finsterwalder und Gerd Lohmer durch die Firma Dyckerhoff und Widmann als erste Rheinquerung im freien Vorbau mit Spannweiten von über 100 Metern errichtet. Der wuchtige neoromanische Brückenturm der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorgängerbrücke wurde ebenso wirkungsvoll wie harmonisch einbezogen.
Nach Jahrzehnten der Nutzung bei stetig steigender Verkehrsbelastung traten zunehmende Schäden an der Konstruktion zutage, die 2010–2013 eine Grundinstandsetzung erforderlich machten. Bereits 2008 hatte man in paralleler Führung eine zweite Brücke angegliedert, um die Verkehrsströme zu bewältigen. Ab 2019 schließlich laufen Planungen, die Brücke nach mehr als 70 Jahren aufgrund von Überalterung und Materialermüdung durch einen Neubau zu ersetzen. Denkmalpflege und Fachwelt suchen seitdem das Gespräch mit den verantwortlichen Planern in Bund und Ländern, um Wege zur Erhaltung des bedeutenden Werks der Ingenieurbaukunst zu finden. Ein von den Landesdenkmalämtern in Rheinland-Pfalz und Hessen zusammen mit dem rheinland-pfälzischen Landesbetrieb Mobilität und dem Institut für Steinkonservierung veranstaltetes Fachkolloquium im September 2021 zeigte innovative Möglichkeiten der technischen Prüfung und nachhaltigen Ertüchtigung von Betonbrücken auf, die den finanziellen und zeitlichen Rahmenbedingungen, aber auch zugleich den aktuellen Anforderungen nach Ressourcenschonung und Nutzung grauer Energie Rechnung tragen. Vielversprechende Ergebnisse wurden dabei vor allem mit Carbon-Beton und Ultra-Hochleistungs-Faserverbund-Baustoffen erzielt.
Einen wichtigen Schritt in den Bemühungen um die Erhaltung bedeutet es, dass die Nibelungenbrücke nun in Abstimmung mit dem Bundesverkehrsministerium als Demonstrationsbauwerk für das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichtete interdisziplinäre Schwerpunktprogramm 2388 „Hundertplus“ ausgewählt wurde (https://tu-dresden.de/bu/bauingenieurwesen/imb/forschung/spp-2388). Das Projekt, an dem verschiedene deutsche Hochschulen beteiligt sind, soll Methoden zur Zustandsbeurteilung, zur frühzeitigen Einleitung von Instandsetzungsmaßnahmen und zur Verlängerung der Lebensdauer von Verkehrsbauwerken erarbeiten, die jenseits der üblichen standardisierten Richtwerte eine individuelle Vorgehensweise ermöglichen. Da jede Brücke unterschiedlichen inneren und äußeren Einflussfaktoren unterliegt und dahingehend als Individuum aufzufassen ist, erscheint es ebenso technisch sinnvoll wie wirtschaftlich lohnend, spezifische, auf den Einzelfall bezogene Sanierungskonzepte auszuarbeiten.
In das Projekt fließen drei Forschungsbereiche ein:
- Die Erstellung digitaler Modelle, in denen die heterogen ermittelten Bestandsdaten und Bauaufnahmen zusammengeführt und als „digitaler Zwilling“ simuliert werden.
- Die digitale Verknüpfung der zu unterschiedlichen Zeiten am realen Objekt erfassten Zustandsinformationen mit dem digitalen Zwilling.
- Die Entwicklung von Zustandsindikatoren und -prognosen mit eventuellen Schadensvorhersagen als automatisierte Ableitung aus den im Rahmen der klassischen Instandhaltung und Inspektion gewonnenen kontinuierlichen Messdaten sowie auf der Grundlage physikalischer Modelle.
Die Erkenntnisse und methodischen Ansätze sollen am Beispiel der Wormser Brücke validiert werden. Neben der Auswertung der verfügbaren Bestandsunterlagen werden dabei auch weitere zerstörungsfreie Untersuchungen sowie ein Monitoring mit laufenden Verschiebungsmessungen durchgeführt.
Auf diese Weise lassen sich wesentliche Hinweise auf den tatsächlichen Zustand, dessen erwartbare Weiterentwicklung und die voraussichtliche Lebensdauer gewinnen. Von den Ergebnissen der Untersuchungen wird abhängen, ob und wie lange die Nibelungenbrücke als großartige historische Ingenieurleistung des 20. Jahrhunderts erhalten werden kann.