Das Ghetto - Von Carola Kickers

Foto: rottenplaces Archiv

„Wie viel brauchen Sie heute?“, fragte mich der Offizier am Schalter der Ausgabe. Mir war kalt und das stundenlange Anstehen in der Schlange mitten in der Nacht kostete Kraft. Doch das war von den Menschen so beabsichtigt. Sie hielten uns extrem kurz und nur einmal in der Woche durften wir zur Nahrungsausgabe. Wir waren alle unglaublich müde. „Drei Liter“, sagte ich leise. „Frisch oder abgepackt?“ Die Stimme von diesem aalglatten Uniformierten klang kalt und ohne jedes Mitleid. Ich blickte ihn an. So ein blasser, blutleerer Typ war das. Blond, blaue Augen, ganz der Standard. Und diese Uniformen machte sie alle zu Robotern. „Frisch“, bat ich ihn. Er ging in den Vorratsraum. Wir haben bis heute nie erfahren, was die da überhaupt machten. Sie verboten uns, miteinander zu sprechen, und wir konnten uns nur heimlich treffen. Diese Unmenschen waren selbst nachts unterwegs. Keine Ahnung, wann die sich das Schlafen abgewöhnt hatten.

Der Vorrat, den er brachte, war noch warm. Das würde auch mich wärmen, zumindest für eine Woche. Ich ging wieder und ließ den Nächsten in der Schlange an die Ausgabestelle.

Sie hatten uns vor Jahren auf diesen alten Friedhof eingepfercht und hielten uns wie Tiere. Viele unserer Rasse waren von stolzer, adeliger Abstammung, das bewies allein schon ihre Kleidung. Hier lebten Sie wie die Ratten. Sie verkrochen sich in den Mausoleen. Für uns andere hatten sie fensterlose Container aufgestellt.

Damals bei der großen Jagd haben sie uns überall auf der Welt eingefangen, und das nur, weil sie uns von Anbeginn unserer Existenz fürchteten. Dabei wollten auch wir nur überleben. Sie betäubten uns mit einer Substanz, die uns unsere Identität vergessen ließ…jetzt irrten die Ältesten von uns wie Zombies über die Grabstätten. Wir jüngeren müssen sie zur Ausgabestelle führen, damit sie nicht Hungers sterben. Dieses Anstehen in der Schlange war für uns die einzige Abwechslung in diesem Dasein. Die schwer bewaffneten Wächter patrouillierten tagsüber und vor allen Dingen nachts an den Friedhofsmauern entlang.

Kameras beobachteten uns rund um die Uhr. Mit ihren riesigen Scheinwerfern jagten sie uns zurück in die Schatten, wenn wir den Mauern zunahe kamen. Wenn ich nur aufhören könnte, an Flucht zu denken! Doch wie mir, ging es vielen. Das weiß ich, ich musste nur einen Blick in ihre Augen werfen. Darin fand ich soviel Zorn auf unsere Peiniger. Die wenigen, die bisher aufbegehrten, sperrten sie in Drahtkäfige und schleppten sie weg. Sie kamen niemals wieder. Bei Sonnenaufgang hörten wir dann ihre furchtbaren Schreie in unseren Köpfen.

Manchmal, wenn wir zur Nahrungsausgabe gingen, kamen wir an einem großen Haufen Asche vorbei, den ihre LKWs von Zeit zu Zeit wegfuhren.

Ja, ich glaube, ich weiß, was sie mit uns machen! Und ich ahne, dieses Schicksal haben sie für jeden von uns vorgesehen, denn unsere Zahl hat sich in den letzten Jahren stetig verringert.

Der letzte Neuzugang war die junge Charlotte gewesen. Sie war bezaubernd. Selbst unsere Wächter empfanden wohl so etwas wie Achtung für sie. Es schien mir so, dass das „Serum“ bei ihr keine Wirkung zeigen wollte, doch das konnte sie hervorragend vor den Menschen verbergen.

Diese schienen bei ihrem Anblick und ihrem Lächeln wie hypnotisiert. Ihr langes, dunkles Haar umrahmte ein blasses Gesicht mit engelhaften blauen Augen, wie klare Bergseen. Trotz ihrer Jugend trug sie das Wissen vieler Jahrzehnte in sich. Aber man konnte sie nicht unbedingt als Gelehrte bezeichnen. Viele von uns hörten ihr gerne zu, wenn sie von der Vergangenheit sprach, als unsere Rasse noch mächtig war. Wir alle konnten sie gut leiden. Sie war eine geborene Führungspersönlichkeit. Ihre Begeisterung wirkte ansteckend und es dauerte nicht lange, bis sich so etwas kleine Verschwörergruppen bildeten. Dann, eines Nachts, verschwand einer unserer Wächter spurlos. Sie durchsuchten alles, fanden aber nichts. Selbst die Alten zerrten sie aus ihren Ruhestätten. Sie waren grausam, wie immer. Doch sie konnten uns nichts beweisen. Stattdessen drohten sie uns mit Nahrungsentzug. Wir sollten in den nächsten zwei Wochen alle nichts zu trinken bekommen.

Zwei Tage nach dem Verschwinden des Wächters gab Charlotte mir ein kleines Fläschchen mit der Bitte, dessen zähflüssigen Inhalt zu trinken. Ich tat es ihr zuliebe. Seit diesem Tag konnte ich mich wieder an alles erinnern!

Ich erinnerte mich plötzlich daran, wer und was ich bin – was wir sind. Alle, die Charlotte mit dieser „neuen“ Nahrung versorgt hatte, konnten sich wieder erinnern. Charlotte erklärte uns, dass dies „echtes“ Blut sei. Dessen Wirkung war unverkennbar: Unsere Augen wurden wieder klar, und wir besannen uns unserer wirklichen Macht. Die Wächter konnten vielleicht verhindern, dass wir miteinander sprachen, aber wir hatten ganz andere Möglichkeiten – wir konnten in unseren Gedanken kommunizieren. Wir beherrschten die Gabe der Telepathie seit Jahrhunderten! Das war unser natürliches Erbe. Dann wir haben uns in die Gedanken und Träume der Menschen eingeschleust. Wir haben sie gelockt, wie wir es immer tun, wenn wir auf Jagd gehen. Es war so leicht. Im Grunde genommen waren die einst so Überlegenen trotz ihrer modernen Waffen hilflos. Heute muss ich lachen, wenn ich darüber nachdenke, wie vermessen diese Kreaturen doch damals waren.

Kurz nachdem Charlotte den Aufstand in unserem Ghetto angezettelt hatte, sind wir ausgeschwärmt. Ja, wir waren frei – wir waren es immer gewesen. Wir hatten nur vergessen, welche Mächte uns zu Diensten waren.

Wir, die Kinder der Nacht, haben ihre Regierungen zerschlagen, ihre Völker in die Städte eingesperrt, und dank ihrer eigenen Technologie können wir sie nun Tag und Nacht überwachen. Nur ein paar Wenige von ihnen leben noch wild in den ländlichen Gebieten, doch das erhöht nur den Reiz der Jagd für einige von uns. Im Großen und Ganzen ging alles rasend schnell, keine vier Wochen hat es gedauert, bis wir die Kontrolle über ihre Spezies übernommen hatten. Wir machten sie mit ihren eigenen Drogen gefügig. Seitdem züchten wir sie selbst. Die neuen Generationen können sich heute nicht einmal daran erinnern, dass es jemals anders gewesen war. Es geht ihnen gut, sie werden gepflegt und versorgt. Die Besten und Klügsten von ihnen haben immerhin die Chance, auf unsere Seite zu wechseln. Aber meistens muss das Los entscheiden, denn wir dürfen nicht überhand nehmen. Sonst würde irgendwann die Nahrung zu knapp werden. Schließlich sind wir unsterblich!

„Wie viel brauchen Sie heute?“, fragte mich der Vampir an der Ausgabe. Auf meine Bitte hin hat er mir den Wochenvorrat gebracht – ein hübsches, kleines Ding von gerade mal 18 Jahren.

Carola Kickers
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