Nachtspaziergang - Von David Petzuch

Foto: pixelio/Peter Freitag

Wissen Sie, ich gehe gerne ins Kino, bin quasi Filmfreak. Mittlerweile bin ich so einmal die Woche dort. Nach einem Film unternehme ich dann gerne noch einen kleinen Nachtspaziergang, um in der Stille noch einmal meine Gedanken während des Filmes und über den Film auf mich wirken zu lassen.Wissen Sie, bei diesen nächtlichen Spaziergängen komme ich des Öfteren an einem Autohaus vorbei. Und da läuft dann immer irgendwo im Hintergrund diese Musik.

'Welche Musik, was für eine Art von Musik?', werden Sie sich jetzt fragen, stimmt's? Nun, theoretisch könnte es jede erdenkliche Musik sein: Musik aus dem Radio, von der Kassette oder CD, vielleicht sogar von einer Platte. (Wissen Sie, es mag Leute geben, die diese warme Klangsymbiose aus Nadel und Vinyl noch zu schätzen wissen.)Vielleicht ist es Musik von Springsteen oder Katy Perry.

'Aber woher kommt diese Musik denn überhaupt?' Auch diese Frage kann ich Ihnen beantworten: Nun wohl aus einem der PKW, nehme ich an. Aus welchem?? Einer der Gebrauchtwagen ist es vielleicht. Vielleicht ist es die Musik dieses bekifften Hippies, der da nachts mit dem Bully parkt, der sein Zuhause ist. Vielleicht ist auch der da hinten, der so verdächtig schaukelt?Vielleicht kommt es aber auch aus einem der Neuwagen im Gebäude. Vielleicht ist eine der hinteren Türen offen und ja vielleicht, wenn Sie genau hinhören oder nur ein paar Schritte näher rangehen, können Sie das Reiben von nackter Haut an Leder begleitet von mehr oder weniger lautem melodischem Stöhnen hören.

Vielleicht findet dort nachts so eine Art Parkplatz-Sex statt, nur eben nicht auf einem Parkplatz in einem schäbigen Autobahn-Raststätten-Klo, sondern auf dem Rücksitz einer nagelneuen BMW-Limousine.Getränke-Halter inklusive.

Können Sie auch schon diese merkwürdig nüssig-süßliche Mischung aus Neuleder-Geruch und Körperflüssigkeiten riechen? Fragen Sie sich nicht auch, ob es moralisch fragwürdig wäre als Veganer an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen? Fragen, die wir uns besser nicht länger stellen! Wer weiss wohin uns das führen würde. Im schlimmsten Falle vielleicht zu einer neuen Folge Galileo Mystery.

Vielleicht kommt die Musik aber auch aus dem tiefergelegten Opel Corsa von Ganja-Man, der um die Ecke nachts Hasch-Plätzchen verkauft. Ja genau, der da hinten mit dem schiefen Auspuff, der wohl nur noch von Luft, Liebe und 5 Rollen Panzertape aus dem Baumarkt gehalten wird.

Ein investigativer Journalist würde wohl mal nachsehen oder zumindest aus der Musik seine Schlüsse ziehen: Ist es Rockland-Radio, so könnten es die Leder-Fetischisten sein. Was bedeuten würde, dass ich meinen ersten Neuwagen nicht hier kaufen würde...Ist es Bob Marley, wird es wohl der Ganja-Man sein, der eigentlich Thorsten heißt und dessen Kekse echt gut sind, kann ich nur empfehlen, und vielleicht ist noch einer übrig.

Vielleicht ist es Springsteen und dann ist es ganz sicher eine Orgie im Van und sicher ist da noch ein Platz frei, wenn Sie verstehen was ich meine?

Vielleicht ist es aber Chopin? Und dann???

Vielleicht kommt die Musik auch gar nicht aus dem Leder-Auto, dem Van oder irgendeinem Auto. Vielleicht, ja möglicherweise, kommt diese mysteriöse Musik auch direkt aus dem Büro des Chefs. Wäre immerhin möglich, nicht?

Vielleicht, ja vielleicht, kommt jene Musik, die die Stille in deinem Kopf so jäh, PLÖTZLICH ,unerwartet durchbrochen hatte; jene Musik, die deine vielleicht so trübsinnigen Gedanken für einen Moment aufgehellt haben, die dich deine Augen schließen und für einen kurzen Augenblick in besseren, nobleren Zeiten haben wandeln lassen; in Zeiten in denen es keiner lasziven Frauenstimme bedurfte, um dich die Macht der Liebe fühlen zu lassen...

Vielleicht, ja vielleicht, kommt jener magische Wohlklang, jenes Meeresrauschen längst vergangener Jahrhunderte direkt aus ebendiesem Büro, dessen Tür im Halbdunkel verborgen liegt und dessen kaltweiße Neonröhren Sie durch das Oberlicht flackern sehen können.

Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass die Musik auch tagsüber zu hören sei; dasselbe Stück immer und immer und immer und immer UND IMMER WIEDER, nur gedämpft durch die mörderisch-ignorante selbstgefällige Geschäftigkeit des Tages.

Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass das Autohaus schon geschlossen ist, die Farbe bereits geronnenem Blut gleich in rostroten Fetzen vom Firmenschild blättert? Was, wenn ich Ihnen sagte, dass jene Automobile die letzten stillen Zeugen vergessenen menschlichen Scheiterns sind; mechanische Leichen, die bereits der Auto-Organmafia zum Opfer gefallen sind?

Und niemand hat sich die Mühe gemacht den Strom abzustellen oder wenigstens das Licht auszuschalten.

Was wäre, wenn ich Ihnen auch noch sagte, dass der Chef sein Büro nie verlassen habe?

Wenn Sie nur noch ein paar weitere Schritte näher rangehen, wenn Sie sich trauen, können Sie vielleicht das leise Knirschen des Seils hören, das von der Decke baumelt und damit ironischerweise das einzige weit und breit darstellt, das zumindest die Illusion von Leben in sich trägt.

Oder vielleicht fällt auch gerade der letzte Tropfen Blut von der Armlehne auf den Boden.

Wäre das nicht eine ganz besondere Synphonie?

Was, wenn ich Ihnen sagte meine Stadt sei Ihre Stadt?
Es könnte überall sein. Vielleicht sogar bei Ihnen um die Ecke.
Sie glauben mir nicht?
Dann sehen Sie doch einfach mal nach und beweisen Sie sich das Gegenteil.

David Petzuch