Symbiose - Von Carola Kickers

Foto: pixelio/Maret Hosemann

Die Dämmerung bricht herein, und ich blicke über ein Meer von Farben. Es sind die Farben des Sommers, alles steht in voller Blüte und es duftet herrlich nach Rosen, Lavendel und frischen Kräutern. Der Garten liegt ziemlich nahe an einer Steilküste. Das Brausen der Wellen, die an Land zerbrechen, übertönt noch das abendliche Summen der Insekten. Das Rufen der Möwen und Kiebitze verstummt langsam. Von der See her weht eine leichte, salzige Brise herüber. Ein Geruch voller Sehnsucht nach der Ferne.

Wie jede Woche um die gleiche Zeit warte ich. Im Sommer sitze ich gerne hier draußen auf der Veranda in meinem Garten. Vor vielen Jahren bin ich hierher gezogen in das kleine, einsam gelegene Haus an der Küste. Ich habe es liebevoll dem Verfall entrissen, es wieder hergerichtet und zu meinem Zuhause gemacht. Hier fühl ich mich wohler als in den Mietskasernen der großen Städten. Es gibt weit und breit keine weiteren Häuser mehr hier. Das Meer hat sich seit Jahrhunderten viel Land zurückgeholt. Aber das hat auch sein Gutes: Man braucht neugierigen Nachbarn nicht so viele Erklärungen abzugeben. Hier leistet mir nur eine Katze Gesellschaft. Zumindest für ein paar Jahre. Alles um mich herum hat immer nur ein paar Jahre Bestand.

Wie gesagt, ich warte. Die Sonne versinkt wie in Zeitlupe mit einem glühenden Gruß an die hereinbrechende Nacht am Horizont. Die unsichtbare Tür zwischen den Welten öffnet sich, und ich spüre einen leichten Luftzug auf meiner Wange, wie das Streicheln von lautlosen Eulenflügeln. Mein Herz macht einen Sprung vor Freude. Er kommt immer um diese Zeit. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber ich freue mich immer über sein Erscheinen. Ohne ihn möchte ich nicht mehr sein.

Die Menschen, die ich einmal geliebt habe, sind längst gegangen. Die anderen sind mir gleichgültig geworden. Mein Leben wäre leer ohne seine regelmäßigen Besuche, die ich voller Sehnsucht erwarte. Wir reden oft miteinander – über Gott und die Welt – meistens aber nur über die Welt. Er hat mich einmal gefragt, warum ich nicht gehen möchte von dieser Erde. Dabei bleibe ich nur wegen ihm. Ich glaube, er weiß das. Dabei kann ich das Gefühl nicht einmal beschreiben, das ich für ihn empfinde.

Wie ein kühler Abendschatten nimmt er neben mir Platz auf der Bank. „Du weißt, ich muss dich das fragen“, beginnt er leise unser Gespräch.

Ich nicke nur. „Es ist mein freier Wille“, antworte ich, wie jedes Mal. Es ist fast zu einem Ritual geworden.

„Willst du wirklich weiterhin gefangen bleiben in diesem Körper?“, fragt er. Seine warme, volle Stimme klingt fast besorgt. Sie erinnert mich an einen Opernsänger.

„Alle Menschen haben doch einen freien Geist“, beginne ich vorsichtig, um vielleicht endlich etwas mehr über ihn und seine Welt zu erfahren – eine Welt, die ich nie gewagt habe, zu betreten -, „aber dieser Geist ist gefangen in einem vergänglichen Körper, der jeden Tag ein Stück mehr verfällt. Ihr dagegen seid unsterblich, und darum beneiden wir euch.“

Er scheint zu überlegen. „Das stimmt. Aber unser freier Geist ist gefangen in ewig ein und demselben Körper. Wir können niemals wiedergeboren werden. Viele von uns verzweifeln und wählen das Erlöschen in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Diejenigen, die ihr Schicksal akzeptiert haben, sind Beobachter der Zeit und erleben die Geschichte eures Planeten mit, aber davon gibt es nur wenige. Ihr Ende ist die vollständige Vernichtung am Ende aller Tage. Warum solltest du dich freiwillig für solch ein Schicksal entscheiden wollen? Ist eine Liebe das wirklich wert?“

Ich hänge eine Weile meinen Gedanken nach und lausche da bei den Geräuschen der Wellen wie einem beständigem Atemzug. Dabei weiß ich genau, dass er sie lesen könnte. Aber ich glaube nicht, dass er es tut. Ist eine Liebe das wirklich wert? klingt sein letzter Satz in mir nach.

„Ich bin froh, dass ich dich habe, Elisa“, sagt er jetzt. Dankbarkeit klingt daraus. Respekt und Zärtlichkeit. Aber Liebe?

Er legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Dann beugt sich zu mir, als wolle er mich küssen. Ich genieße diesen Augenblick und lasse ihn gewähren. An den Schmerz bin ich gewöhnt. Ein kurzer Augenblick von Nähe, von Einheit. Mehr schenkt er mich nie. Und auch in dieser Nacht wird er nicht lange bleiben. Oft wartet er noch, bis ich eingeschlafen bin, bevor er geht. Ob es wohl noch andere gibt wie mich?

Mein Herzschlag setzt kurz aus, als er mich loslässt. Ich fühle mich unsagbar müde und er bettet mich behutsam auf die Bank im Garten.

Eigentlich gehöre ich nirgendwo mehr hin, weder zu den Menschen, noch ganz zu seiner Welt. Wir haben damals einen stillen Pakt geschlossen. Er erhält jede Woche einen Teil von meinem Lebenssaft und schenkt mir dafür einen Hauch seiner eigenen Unsterblichkeit. Nur einen Hauch, denn er hat mich in all der Zeit weder getötet, noch gewandelt. Es macht mir nichts aus, sein Wirt zu sein.

Das war auch der Grund, warum ich damals aus der Stadt fortgezogen bin. Ich bin schon so oft umgezogen! Hier draußen habe ich Ruhe vor den aufdringlichen Blicken und stummen Fragen. Und ich brauche meinen Namen nicht ständig zu wechseln.

Ja, ich bin immer noch 28 Jahre alt und das seit fast 100 Jahren!

Carola Kickers
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