Wie doch die Zeit vergeht! Da wird gerade der dritte und letzte Teil von "Geschichten hinter vergessenen Mauern - Lost Place Storys aus Leipzig - Abschied" angekündigt und wenig später erscheint der Trailer, da stehen auch schon die Zuschauer Schlange am alten Hauptpostamt und warten auf Einlass zur Premierenvorführung des Films. Volle 180 Minuten Dokumentation als Double-Feature hatte der Leipziger Filmemacher Enno Seifried angekündigt und jeder, der sich in gewisser Weise ernsthaft mit dem Thema "Lost Places" und deren Geschichte verbunden fühlt, fieberte diesem Finale entgegen. Enttäuscht wurde wie erwartet niemand - im Gegenteil. Für den letzten Teil der Trilogie hatte man noch einmal eine Schippe aufgelegt und einem Finale alle Ehre gemacht.
Vorgestellt wurden erneut architektonisch anmutende Lost Places, die alle ihre ganz eigene Geschichte haben und noch heute stadtprägend sind. Angefangen bei der Brikettfabrik Witznitz, zu der der ehemalige Abteilungsleiter Siegfried Fuchs eine Menge zu erzählen hat, Peter Degner, der über seine leer stehende Richard-Wagner-Schule philosophiert, Jürgen Wilms, der über seine Zukunftsplanungen rund um den alten Flughafen Mockau informiert und Gaby Witt, die über ihre Zeit als Postangestellte im Hauptpostamt berichtet. All diese Zeitzeugen haben für GHVM 3 ihre Geschichte erzählt und somit gemeinsam mit dem Filmteam ein historisches Werk geschaffen. Auf dem Gelände der Mitteldeutschen Motorenwerke haben Jugendliche vor Jahren auf einem großen Platz mehrere Parcours für Mountainbikes mit Sprungschanzen, Rampen und Steilwänden errichtet. Der Besitzer des Geländes forderte die Gruppe auf, einen Verein zu gründen, drohte später sogar mit der Zwangsräumung. Diese und viele weitere "Geschichten" haben Seifried und sein Team wieder gekonnt eingefangen, präsentieren ein harmonisches Zusammenspiel aus Dokutainment und filmischem Sightseeing.
Beeindruckend waren auch die Sequenzen zur künstlerischen Szene in Leipzig. Die Urban Artist Gruppe PERS-ART, dessen Kunstportfolio von Stencilarbeiten, Stickerart, dem direkten Farbauftrag im öffentlichen Raum über Leinwandarbeiten, Auftragsmalereien bis hin zu den stadtbekannten Tonnenskulpturen reicht - die egal ob hängend, geklebt oder angekettet mit einem frechen Grinsen jedem wachsamen Fußgänger sofort ins Auge fallen. Einige dieser Exponate konnten sich die Besucher nicht nur im Film, sondern aus nächster Nähe anschauen.
Altes Hauptpostamt als Premieren-Location
Nach dem Sowjetischen Pavillon im Jahr 2012 und dem Kulturkino Zwenkau im letzten Jahr hatten sich Seifried und sein Team genau die passende Location ausgesucht, um in gebührenden Rahmen "Abschied" zu feiern. Die Wahl fiel auf das alte Hautpostamt am Augustusplatz, das in den Jahren 1961 bis 1964 errichtet und bis 2011 genutzt wurde. Das Gebäude hatte gleichzeitig die Funktionen eines zentral gelegenen Postamtes und als Fernmelde- und Telegrafenamt inne - beherbergte auch bis zur "Wende“ die Postdirektion des Bezirkes Leipzig. Der quaderförmige, siebengeschossige Stahlskelettbau mit vorgesetztem sechsgeschossigen Fassadenteil aus Sichtbeton, Glas und Aluminium ist noch heute ein imposanter Anblick und wurde nach der Schließung nur für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt. Jetzt soll das Gebäude zu einem Wissenschafts-Campus umgebaut werden, Mitte 2016 sollen dort dann Studenten, Einzelhändler und Wissenschaftler einziehen. Extra für die Filmpremiere von GHVM wurden einige Bereiche geöffnet, entsprechend farblich illuminiert und durchdacht dekoriert, ein Kinosaal installiert und großzügige Zuschauerbereiche geschaffen. Die Premiere war im Auftrag von Seifried und Team von der ADK Medienagentur technisch und optisch professionell betreut worden. Ein reichhaltiges Buffet und ein DJ rundeten den Abend ab.
Filmisches Denkmal geschaffen
Zum Ende des zweiten Teils des Double-Features wagte sich dann auch Seifried auf die Bühne, im Schlepptau sein Filmteam, das er namentlich vorstellte. "Ich danke jedem, der an diesem Projekt mitgewirkt und mich auch sonst irgendwie unterstützt hat. Mein besonderer Dank geht aber an Euch (die Zuschauer, Anm. der Redaktion), denn nur durch Euch konnte dieses Projekt realisiert und finanziert werden", so Seifried, "wir könnten viele Filme machen, aber wenn sie keinen interessieren würden, dann gäbe es auch keine Abende wie diesen hier." Emotional wurde es, als Seifried die Leistungen seines Bruders Patrick würdigte - dieser stellte erneut seine künstlerische Qualität bei seinen Zeichnungen zum Film unter Beweis - und mit den Worten endete: "Du bist der geilste Bruder der Welt." Dafür erhielt der Filmemacher lange anhaltenden Applaus.
Mit Roger Liesaus stieß ein Organisator zum Team, dem es gelang, nicht nur entsprechende Genehmigungen zu gezeigten Objekten einzuholen, sondern auch zu jedem einen Interviewpartner. "Roger hat unser Team enorm bereichert, wenn es nach ihm ginge, würden wir noch einige weitere Teile produzieren", sagte Seifried. Thilo Esche hatte - wie bei den letzten beiden Teilen - wieder die Produktionsleitung inne, Falk Johnke war wieder für die 3-D-Animationen verantwortlich. Qualitativ setzte Seifried mit Drohnenflügen und Kamerafahrten noch einen drauf und präsentierte beeindruckende Blickwinkel. Wie in den Vorjahren wurde das Filmprojekt über die Crowdfunding-Plattform Vision Bakery finanziert, um Gelder für die Premiere, eine Doppel-DVD, Soundtrack, Werbung usw. einzusammeln. Nach nicht mal 26 Stunden war die benötigte Summe erzielt und nicht nur das, bis zur Filmpremiere konnte man hunderte Unterstützer gewinnen, das Projekt also gleich mehrfach finanzieren.
An den Reaktionen der Zuschauer und auch denen der geladenen Protagonisten konnte man deutlich feststellen, wie sehr dieser letzte Teil der Trilogie bewegt aber auch begeistert hat. Zwei Mal 90 Minuten Dokumentation aufeinander waren hier alles andere als weitläufig und langweilig, es war die perfekte Wahl um das Kapitel Lost Places in Leipzig zu schließen und sich ein kleines filmisches Denkmal zu setzen. Seifried und seinem Team ist eine Trilogie gelungen - ernsthaft und sensibel, aber auch oft mit einer gehörigen Portion Satire und Humor - die den Abrisswahn oder das Vergessen bedeutender Bauwerke aufgreift, durch Erzählerin Nina Maria Föhr und Zeitzeugen die Geschichte emotional greifbar macht, die Entscheider der Stadt nebst Menschen mit Visionen aufrütteln möchte und durch präsentierte, weiterführende Konzepte den roten Faden spannt. Gleichwohl sind die drei Teile von GHVM eine Erinnerung, dass die Zeiten der DDR oftmals von schwerer Arbeit, Entbehrungen und häufig auch von Leid geprägt waren - dass die Wende nicht nur Vorzüge, sondern in erster Linie die Schließung sowie den Ausverkauf der meisten Betriebe und folglich die Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Die Trilogie ist zugleich Reise zu den Geschichten hinter vergessenen Mauern und ein filmisches Denkmal für die Stadt.
Abschied vom Abschied?
Die 180-minütige Dokumentation der Trilogie von "Geschichten hinter vergessenen Mauern - Lost Place Storys aus Leipzig" soll definitiv der letzte Teil gewesen sein. Ob es allerdings die letzte Dokumentation überhaupt zum Thema Lost Places war, dazu schweigt Seifried. Noch bei der Filmpremiere von "Abschied" am 23. Mai in Leipzig konnte man den Filmemacher des Öfteren sagen hören: "Das war es definitiv in dieser Stadt!" Im Februar erzählte Seifried unserem Magazin, dass es eine Leipzig-Fortsetzung nicht geben wird. Und diese Aussagen sind ein kleiner Hoffnungsschimmer für alle Freunde dieser Dokfilm-Reihe, denn Städte für weitere Filme dieser Art gibt es in Deutschland genug. Denkt man an Berlin (und Umgebung), Magdeburg, Chemnitz, Halle, Dresden, Zwickau usw., dann findet sich ausreichendes Material für weitere Dokumentationen über die nächsten Jahre. Und das diese "Fortsetzungen" aus Crowdfunding-Sicht ein Erfolg werden würden, erklärt sich von selbst. Die Fanbase auf jeden Fall ist da! (aw)